Ich lese oft in sterilen Räumen mit Neonlicht. Manchmal habe ich aber auch Glück. Dann gerate ich an Veranstalter, die ihr Handwerk verstehen. Neulich zum Beispiel war ich Gast der Stadtwerkstatt in Kamenz. Wenn ich alles richtig verstanden habe, ist das ein Zusammenschluss von Leuten, die gegen eine gewisse Tristesse in ihrer Heimatstadt ankämpfen. Sie sorgen mit Talkrunden dafür, dass die Einwohner von Kamenz miteinander ins Gespräch kommen. Darüber hinaus organisieren sie Lesungen, Konzerte, Bastelkurse und Fotoshootings. Ich mag solche Vereine und Initiativen. Sie bestehen aus Leuten, die anpacken und nicht rummeckern. Sie wollen in ihren Städten und Dörfern etwas bewegen. Sie wollen gestalten und würden dafür ihr letztes Hemd geben. Solche Charaktere begegneten mir in der Stadtwerkstatt Kamenz, Frauen und Männer, die ehrenamtlich mehr auf die Beine stellen als so manche städtischen Kulturbüros.

Als ich in Kamenz ankam, durfte ich zunächst die Graffiti-Kultur der Lessingstadt bewundern. „Bei Ordnungsmaßnahmen von Stadt und RA Weise sitzt du als Nachbarin in der Scheiße“, stand in großen Buchstaben an einer Hauswand. Das war genau mein Humor. Ich fühlte mich sofort wohl in Kamenz.

Normalerweise werde ich von den Veranstaltern meiner Lesungen immer auf wackligen Barhockern oder einfachen Holzstühlen platziert. In Stadtwerkstatt Kamenz saß ich auf einem gemütlichen Sofa, und ich bekam sogar eine eigene Leselampe und Wasser ohne Kohlensäure serviert. In Bibliotheken gibt es nie Wasser ohne Kohlensäure. Da gibt es immer nur Sprudel. Für einen Schriftsteller ist das quasi das qualvollste Getränk, was man sich vorstellen kann. Die Kohlensäure sorgt spätestens nach der dritten Kurzgeschichte dafür, dass man sein Publikum nur noch vollblubbern kann, und das ist weder für das Publikum noch für den Schriftsteller angenehm.

In Kamenz blieb mir jegliches Geblubbere erspart. Dafür streikte anfangs der Beamer. Anne, Jan und wie die Leute von der Stadtwerkstatt alle hießen, griffen umgehend zu ihren Handys, um das Problem zu lösen. So kam es, dass ich via Video-Live-Chat mit einem Mann kommunizierte, der sich in technischen Fragen offenbar gut auskannte. Er wollte von mir wissen, welche Monitoreinstellungen mein Laptop habe. Genau die richtige Frage für mich. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie ich zu den Monitoreinstellungen gelangte. Der Mann in meinem Handy lotste mich aber zielsicher dorthin. Den Beamer bekamen wir trotzdem nicht in Gange. Doch das war egal. Denn die Leute von der Stadtwerkstatt hatten bereits weitere Techniker informiert. Sie schalteten sich aus aller Welt zu, weil sie gerade im Urlaub oder anderweitig unterwegs waren. Irgendwann saß dann ein junger Mann, der eigentlich zu einer Party wollte, an meinem Laptop und fragte mich, ob ich das Beamerkabel richtig angeschlossen habe. Er zog den Stecker und steckte ihn anders herum wieder in den Laptop. Ich sagte „Uui, gibt`s ja nicht“, und er sagte „Schöne Lesung!“ Der Beamer surrte nun fröhlich vor sich hin und ich, ich konnte endlich mit meiner Lesung beginnen.

Ich hatte anfangs ein wenig Angst vor dem Kamenzer Publikum, weil mir jemand zugeflüstert hatte, dass mein Buchtitel „Bück Dich, Genosse!“ nicht bei jedem Kamenzer Bürger gut angekommen sei. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Kamenz eine lange Militärtradition hat. Sogar mein Flugheld Sigmund Jähn, dem ich ein Kapitel in meinem Satirebuch gewidmet habe, fühlte sich mit der Stadt eng verbunden. Er war Offiziersschüler bei den Luftstreitkräften der DDR in Kamenz. Am Wochenende ist Sigmund Jähn im Alter von 82 Jahren verstorben. Ich besitze noch eine Autogrammkarte von ihm. „Für den Nachwuchskosmonauten aus Burg“, hatte Jähn auf die Karte geschrieben. Und weiter: „Mit Soldatengruß, Sigmund Jähn.“

Ich hüte sie wie einen Schatz und wollte sie auch schon meinen Kindern zeigen. Aber die haben kein Interesse an Antiquitäten.

Sigmund Jähn war ein sehr bescheidener Mensch. Bescheiden sind auch die Macher der Stadtwerkstatt in Kamenz. Und ihre Gäste sind ein bunt gemixtes Völkchen.

Als ich aus meinem Satirebuch vorlas, saßen im Publikum neben vielen interessierten Bürgern und-innen, auch ehemalige Offiziere, Verfolgte des SED-Staates und Westdeutsche. Mehr Gegensatz geht nicht. Und trotzdem hatten alle ihren Spaß. Sie kamen vor und nach der Lesung miteinander ins Gespräch. Sie diskutierten über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, und sie hörten sich gegenseitig zu. Sowas hatte ich bei vorangegangenen Lesungen noch nie gesehen. In der Stadtwerkstatt Kamenz schien die Deutsche Einheit dreißig Jahre nach dem Mauerfall endlich vollzogen zu sein. Das gefiel mir außerordentlich gut.

Stephan Schulz

Magdeburg, 23.09.2019