Reaktion auf Buchlesung: Kamenzer Verein spricht mit Historikerin | MDR.DE
RUSSISCHE GESCHICHTSMYTHEN
Reaktion auf Buchlesung: Kamenzer Verein spricht mit
Osteuropa-Historikerin
04. Dezember 2023

Am 6. Dezember wird der Journalist Patrik Baab in Kamenz sein Buch „Auf
beiden Seiten der Front“ über den Krieg gegen die Ukraine vorstellen.
Osteuropaexperten werfen dem Buch vor, russischen Propaganda zu
verbreiten. Ein Verein hat die Historikerin Anna Veronika Wendland, die als
eine der ersten den Auftritt kritisierte, zumm Dialog eingeladen. Es ging
nicht nur um die Ukraine, sondern auch um ihre Rolle als
Atomkraftbefürworterin. Auch der Kamenzer Bürgermeister stellte sich der
Diskussion.
Am 6. Dezember wird der umstrittene Journalist Patrik Baab für eine Lesung
nach Kamenz kommen. Das sorgte im Vorfeld für Kritik.

Ein Kamenzer Verein organisierte aus Protest einen Dialog mit der Osteuropa-
Historikerin Anna Veronika Wendland.

Im Verlauf des Abends stieß auch OB Roland Dantz hinzu. Im Gespräch mit der
Historikerin Wendland blieb Dantz bei seiner Meinung.
Sie wäre eine Grenzgängerin, erzählt Anna Veronika Wendland und zeigt auf
ihre beiden Bücher, die sie für viele so undurchsichtig erscheinen lassen. Die
Historikerin vom Herder-Institut in Marburg schreibt über die Geschichte der
Ukraine und hält Plädoyers für die Atomkraft. Unterstützung für die Ukraine
und Pro-Atomkraft? Das passe für viele nicht zusammen, meint Wendland.
Für die Kamenzer Bürgerinnen und Bürger, die am Freitagabend ihrem Vortrag
zuhören, ist sie vor allem als Kritikerin einer Lesung und des
Oberbürgermeisters Roland Dantz (parteilos) bekannt.

Buchlesung steht in der Kritik
Auslöser der Veranstaltung ist nämlich eine geplante Buchlesung im Kamenzer
Stadttheater am 6. Dezember. Der Investigativ-Journalist Patrik Baab hat
Russland und russisch besetzte Gebiete im Donbass besucht. In seinem Buch
„Auf beiden Seiten der Front“ erläutert er seine Eindrücke und ordnet den
Ukraine-Krieg ein.
Bereits der Ankündigungstext auf der Webseite des Stadttheaters stieß im
Vorfeld auf öffentliche Kritik. Osteuropa-Experten meldeten sich beim
Oberbürgermeister Dantz und verlangten eine Richtigstellung, weil der Text
ihrer Auffassung nach von russischen Propagandamythen durchzogen sei. So
wird darin unter anderem vom einem „Putsch auf dem Maidan“ gesprochen.
Auch MDR SACHSEN berichtete über die Kontroverse und analysierte Baabs
Buch. Die Recherchen zeigten, dass das Buch Falschbehauptungen sowie
fragwürdige Wertungen enthält. Patrik Baab widerspricht dem und sagt, dass
sich alle Darstellungen in Einklang mit dem internationalen Forschungsstand
zum Ukraine-Krieg befänden.
Linken-Stadtrat: „Staatliche Cancel Culture“
Der Kamenzer OB Dantz hält an der Lesung fest und lehnt eine zusätzliche
Veranstaltung im Stadttheater mit weiteren Osteuropa-Experten ab. Der Verein
Stadtwerkstatt Kamenz hat deshalb spontan einen eigenen, kostenlosen
Bürgerdialog organisiert, der diese Lücke nun schließen sollte und lud dazu die
Historikerin Wendland ein, die Anfang November einen offenen Brief an OB
Dantz schrieb.
Als Gegenveranstaltung will man sich aber nicht verstanden wissen. Es sei eher
ein Protest, sagt Stadtrat Alex Theile (Linke), der sich für den Verein
ehrenamtlich engagiert und als Moderator durch den Abend führt.
Theile erzählt zu Beginn von der Einseitigkeit, die die Stadtverwaltung Kamenz
zulasse. Andere Meinungen und Fakten basierte Argumente zum Ukraine-Krieg
unterdrücke man. „Staatliche Cancel Culture“ sei das, wettert Theile.
Etwa 25 Menschen sind gekommen. Mehr hätten in die kleinen Vereinsräume
auch kaum gepasst. Wendland spricht zunächst über ihren Werdegang – wie sie
in der Sowjetunion studierte und später in einem ukrainischen AKW forschte.
Historikerin wirft Baab unsaubere Arbeit vor
Sie liest aus ihrem neuen Buch „Befreiungskrieg“ vor, bei dem sie sich das Ziel
setzte, die Geschichte der Ukraine nicht als Opfermythos zu erzählen, sondern
die Ukrainer als eigenständige Subjekte zu erläutern, die ihre Geschichte selbst
formen.
Ganz bewusst grenzt sie sich dabei von Patrik Baab ab. Im Verlauf ihres Vortrags
wirft sie ihm immer vor, unsauber gearbeitet und für sein Buch zu wenige
Originalquellen benutzt zu haben. In Zukunft plane sie noch, eine ausführliche
Kritik zu schreiben, sagt Wendland.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer stellen anschließend viele Fragen, die sich
kaum mit einem einfachen Satz beantworten lassen. Woher kommt die
Annahme, dass die Ukraine kein richtiger Staat wäre? Hätte man Putin in der
Vergangenheit irgendwann die Hand reichen können? Warum wurden russische
Sportler nach Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine von
Wettbewerben ausgeschlossen? Wie lässt sich der Krieg beenden?
„Ein Scharlatan ist der Baab nicht“
Es sind nicht nur Leute gekommen, die die Buchlesung am 6. Dezember kritisch
gegenüberstehen. „Ein Scharlatan ist der Baab nicht. Das möchte ich ganz
ausdrücklich sagen“, meint ein älterer Herr. „Das ist ein seriöser Journalist und
wenn man eben jeden Fehler als Lüge deutet, dann macht man was falsch.“
Eine andere Besucherin zeigt sich unsicherer: „Ich bin nächste Woche auch bei
Herrn Baab, aber jetzt denke ich, oh Gott, ob das überhaupt Sinn ergibt, wenn
der gar keine zuverlässigen Quellen benutzt hat“, sagt sie. „Frau Wendland sieht
das wirklich nochmal aus einer anderen Perspektive. Aus der Sicht der
Menschen, die dort leben. Das kann ich jetzt wirklich gut verstehen.“
Martin Walther aus dem Kreisvorstand der FDP-Dresden ist ebenfalls
gekommen und spricht von einem „kenntnisreichen“ Vortrag. Walther hatte
eine Mail an eine Schule in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen) geschrieben,
weil diese eine Lesung mit Patrik Baab plante. Nach dem sich die Schulleitung
nochmal intensiver mit dem ehemaligen NDR-Journalisten beschäftigte, sagte
sie am Ende die Veranstaltung ab.
„Als Liberaler bin ich natürlich für Meinungsfreiheit und finde, Herr Baab soll
jede private Bühne Deutschlands haben“, sagt Walther. „Aber gerade öffentliche
Bühnen, also öffentlich im Sinne von staatlich, sollten da doch einen stärkeren
Fokus auf Wahrhaftigkeit setzen. Und da gibt es bei Herrn Baab eben sehr
große Zweifel.“
OB Dantz besucht Vortrag
Im Verlauf des Vortrags kommt auch der Kamenzer Oberbürgermeister Roland
Dantz dazu und hört sich die Reden an. Unter dem Arm hält er das Buch
„Atomkraft? Ja bitte!“ von Wendland.
Ein Autogramm wolle er sich von der Autorin holen, sagt Dantz. Denn in Fragen
der Energieversorgung sind sich Historikerin und Kommunalpolitiker – im
Gegensatz zum Ukraine-Krieg – relativ einig.
Nach der Veranstaltung disktutieren OB Roland Dantz (l.) und Historikerin Anna Veronika
Wendland (r.). Bildrechte: MDR / Martin Dietrich
Seinen Autogrammwunsch bekommt der OB am Ende des Abends erfüllt.
Anschließend diskutieren beide noch über die geplante Lesung, die Kamenz nun
schon einige Wochen beschäftigt.
Auf einen gemeinsamen Nenner kommen Dantz und Wendland dabei nicht.
Immer wieder betont der OB, dass es hier nicht um Wahrheit oder Lüge ginge,
sondern ein Austausch von unterschiedlichen Standpunkten möglich sein
müsse.
Weitere Veranstaltungen geplant
Linken-Stadtrat Alex Theile zeigt sich insgesamt sehr zufrieden und kündigt
weitere ähnliche Dialoge an. „Ich bin auch überrascht, dass so viele gekommen
sind und froh darüber, dass der Bürgermeister gekommen ist. Damit hatte ich
jetzt nicht gerechnet“, sagt Theile.
Dass im ausverkauften Stadttheater am kommenden Mittwoch sehr
wahrscheinlich mehr Besucher Patrik Baab zuhören werden, störe ihn nicht:
„Das hier war eine Informationsveranstaltung, die kostenlos gewesen ist, wo
Empirie gezeigt wurde. Das andere ist eine Buch-Verkaufsveranstaltung. Die
kann man sich anhören und ein Buch kaufen.“
Als sich OB Roland Dantz verabschieden will, geht er nochmal kurz zur
Historikerin Wendland. Einen Vortrag im Stadttheater zur Atomkraft könne er
sich vorstellen, sagt Dantz. Wendland entgegnet, dass Kamenz doch viel lieber
einen Abend mit ukrainischen Historikern organisieren könne. Sie kenne da
auch jemanden, der in Frage käme.
Beide schweigen sich kurz an. Am Ende können sie sich doch noch auf etwas
einigen: Der Krieg in der Ukraine wird wohl noch eine Weile andauern. Das
Thema wird so schnell nicht verschwinden.